Markus Brunnschneider, Fachbereichsleiter Spiel- & Taktikanalyse, Scouting und Kaderplanung am Internationalen Fußball Institut analysiert auch das zweite Gruppenspiel des DFB-Teams gegen Spanien: "Diese Hürde ist ein Wolkenkratzer"
1:2 vs. 7:0 – die Ausgangslage
Deutschland ging als klarer Favorit ins erste Gruppenspiel gegen Japan und gab bei der 1:2-Niederlage zum ersten Mal nach 44 Jahren eine Halbzeitführung in einem Eröffnungsspiel aus der Hand. In Hälfte eins hatte die DFB-Elf das Match mit 75 % Ballbesitz und 13:1 Torschüssen im Griff, scheiterte jedoch an der Chancenverwertung. In Kombination mit einer in Hälfte zwei luftig agierenden Restverteidigung ein ungünstiger Mix. Gegner Spanien erfüllte seine Pflichtaufgabe mit einem 7:0 gegen Costa Rica hingegen bravourös. Costa Rica erhielt nicht ein einziges Mal die Chance auf einen Torabschluss aus dem Spiel heraus.
Spaniens Spielanlage
Taktisch erwartet Deutschland im Aufeinandertreffen der beiden ursprünglich als Gruppenfavoriten gehandelten Teams ein völlig anderes Spiel als gegen die flinken, auf Konter lauernden Japaner. Spaniens Spielanlage aus einer klaren 4-1-4-1-Grundordnung ist geprägt von kontrolliertem Ballbesitzfußball (mehr als 1000 Pässe bei einer Fehlpassquote von sieben Prozent gegen Costa Rica) und speziellen Abläufen im Positionsspiel, die die Spanier mit dynamischen Tiefenläufen hinter die letzte Linie des Gegners aufpeppen.
Besonders an Spaniens Positionsspiel ist, dass im kontrollierten Spielaufbau Marco Asensio häufig als falsche Neun agiert. Dadurch entsteht im zentralen Mittelfeld eine Raute mit Sergio Busquets auf der Sechs, Gavi und Pedri auf den Achter-Positionen und Asensio im Zwischenraum auf der Zehner-Position. „Scharf“ schalten die Spanier diese Anordnung durch die maximal hohe und breite Positionierung der Außenstürmer Dani Olmo und Ferran Torres. Das bindet die letzte Linie des Gegners in der Tiefe und zieht Räume für die Spielfortsetzung im Mittelfeld auf.
Viele Wege führen zum Tor – und über Gavi
Im letzten Drittel verfügen die Spanier über ein breites Repertoire an Optionen, um in hochwertige Torabschlusssituationen zu kommen. Während Olmo häufig über Spielverlagerungen in der Außenspur gesucht wird, ist Ferran Torres auf der gegenüberliegenden Seite der Akteur, der meist hinter der letzten Linie angespielt wird. Gefahren für die gegnerische Defensive beschwören dazu die immer wieder sehr gut getimten Laufwege der beiden Achter aus dem Halbraum in die Tiefe herauf.
Außerdem lässt die Effektivität der Spanier im Torabschluss die Hoffnungen der deutschen Mannschaft auf einen Sieg schrumpfen: Für die sieben Treffer gegen Costa Rica benötigten die Südeuropäer lediglich 17 Torabschlüsse. „Señor Eficiencia“ im roten Trikot ist Ferran Torres mit zwei Toren aus zwei Abschlüssen. Zum Vergleich: Deutschland schoss 25-mal auf Japans Tor und war lediglich einmal per Elfmeter erfolgreich …
Beim „Man of the Match“ der Spanier gibt es keine zwei Meinungen: Der erste 18-jährige Gavi war an drei Toren beteiligt (ein Tor, zwei Assists) und übernahm damit die alleinige Führung in der Scorer-Liste. Noch höher zu bewerten – vor allem aus taktischer Sicht – ist die überragende Qualität in seinem Passspiel. Trotz vieler riskanter Bälle in die Tiefe weist er eine Passquote von über 90 % auf. Ein Fabelwert für einen offensiven Mittelfeldspieler!
In der Defensive waren die Spanier gegen die harmlos agierenden „Ticos“ aus Costa Rica in keinem Moment des Spiels gefordert. In den wenigen defensiven Situationen und Ansätzen zeigte sich allerdings: Bei Ballverlusten im Spielaufbau – und das sind bei den ballsicheren Spaniern stets nur sehr wenige – agiert Spanien geschlossen als Mannschaft und schaltet sofort in die aktive Ballrückeroberung um.
Schwerer geht’s fast nicht
Deutschland trifft also nicht nur auf ein Team mit außergewöhnlichen Fähigkeiten mit dem Ball, sondern auch der richtigen Mentalität gegen den Ball. Mit dem doppelten Druck der eigenen Auftaktniederlage und des Wissens um Spaniens Stärke sowie der negativen Tendenz mit nur zwei Siegen aus den letzten neun Spielen steht die DFB-Elf gegen frei aufspielende Edelfußballer von der Iberischen Halbinsel vor einer sehr, sehr hohen Hürde …
Darauf muss die deutsche Defensive aufpassen: Marco Asensio agiert oft als falsche Neun, wodurch eine Überzahlsituation für Spanien im Mittelfeld entsteht. Spanien wird den Ball immer wieder in den eigenen Reihen laufen lassen, um eine Verschiebebewegung bei Deutschland zu erzielen und darauf zu lauern, bis einer der DFB-Mittelfeldspieler nicht mehr konsequent durchschiebt. Dann suchen die Spanier den Ball in die Tiefe auf Pedri oder Gavi. Als Option zwei haben sie die Spielverlagerung auf den breit stehenden Dani Olmo und den Chipball hinter die Kette auf Ferran Torres.